Flug der Erinnerungen weckt

Geschrieben von Markus Müller

Bereits bei der Planung des Schönwetter Flugs nach Los Angeles bekamen wir eine erste Ahnung, dass sich in Japan Unheil anbahnt, als wir die sorgenvollen Mienen unserer zugeknöpften Kollegen bei der Vorbereitung des Tokyo Flugs sahen.

Den starken Jet-Strömen ausweichend führte uns der LA Flug ungewöhnlich nördlich bis 75 Grad, für die Passagiere etwas verwirrend zuerst gegen Osten über den Bodensee Richtung Dänemark, nördlich an Island vorbei, mitten über die faszinierende Gletscherlandschaft von Grönland, über die Baffin Bay nach Kanada. Die tief weissen Landschaften liessen wir mit dreiundachtzig prozentiger Schallgeschwindigkeit hinter uns um dann nach zwölfeinhalb Stunden und einem traumhaften Anflug der Westküste entlang, über Downtown LA, den Hollywood Schriftzug zur linken den einhundertneunzig Tonnen schweren Airbus auf der Piste vierundzwanzig rechts aufzusetzen. Über achtzig Tonnen leichter als wir in Kloten die vier Gashebel nach vorne geschoben hatten. Erst nach der Landung erhielten wir Gewissheit, was in Japan tatsächlich ab ging mit welchen abseh- und nicht absehbaren Konsequenzen. So schön Kalifornien ist, so faszinierend die Fliegerei ist, so sind wir Fliegenden oft an vorderster Front wenn etwas passiert und sehen die grosse Welt nicht nur durch die rosa Ferienbrille. Es wurden Erinnerungen wach. Am fünften April im letzten Jahr in LA. Die Kleiderbügel im Kasten machen Lärm, es schüttelt stark, Schwindelgefühl, dann die Durchsage der Hoteldirektion über die Zimmerlautsprecher man solle das Gebäude nicht verlassen und unter den Tisch kauern, Erdbebenalarm. Es war ein Beben in der nahen Baja California der Stärke 7,2, genau gleich stark wie drei Monate vorher das verheerende Beben in Haiti. Japan hatte enorme 9,0. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich auch, dass die hohen Gebäude im gefährdeten Kalifornien auf Rollen stehen um die Einsturzgefahr zu verringern. Oder Erinnerungen an den 24. Oktober 2005. Der Wirbelsturm Wilma näherte sich Miami. Mit über zweihundert Stundenkilometer zog der Hurricane, mächtiger als derjenige von New Orleans, am frühen Morgen über unser Hotel hinweg. Anders als das kurze schütteln eines Erdbebens schwang das ganze Gebäude über längere Zeit mit einem Ausschlag der einem verrückt macht im zehnten Stock. Die Aussentüren waren bereits am Abend vorher verbarrikadiert worden, mussten aber mehrmals mit entgegen stemmen von einem Dutzend Leuten wieder gesichert werden. Etwa ein Drittel der Fensterscheiben waren weg, Matratzen, Vorhänge und Kleider lagen im Hof, der Sandstrand war um einige Meter verschoben, ein geschockter Mitarbeiter sucht in seinem zerstörten Zimmer, fast grotesk wirkend nach seinem Poulet das er als Notvorrat gekauft hatte. Drei Tage Ausnahmezustand, stromlos, Ausgangsperre in der Nacht, rationierte Lebensmittel, ein Batterieradio in der Lobby als einzige Informationsquelle im hochmodernen Amerika. Oder die Erinnerung an den 5. Juli 2000. Während fast einer Woche war ich mit meiner Besatzung im vom Militär und französischen Fremdenlegionären bewachten Hotel in Abidjan blockiert wegen dem ausgebrochenen Bürgerkrieg. Völlig unwirklich lagen wir am Pool und hörten rundherum pausenlos Schüsse und Maschinengewehrsalven. Von drei evaluierten Fluchtwegen entschieden wir uns für die Evakuation auf dem Luftweg. Mit Militärkonvoi verschoben wir auf den Flugplatz, nachdem unserem Aufbruch furchtbare Szenen voraus gegangen waren mit Leuten die mitkommen wollten und wir das Militär mit einem grösseren Barbetrag noch etwas motivieren mussten, zwischen ausgebrannten Autos hindurch zum völlig verlassenen Flugplatz. Banges ausharren bis die Propellermaschine einer Bergbaufirma aus Accra landete und uns ins benachbarte Ghana ausflog. Es war eine extreme  Ausnahmesituation für alle, die gerade heute wieder starke Erinnerungen abruft, was sich in Japan wohl abspielen wird wenn die Leute einfach nur noch weg wollen. Damals waren es tief gehende Erlebnisse, jetzt erscheinen sie uns als Peanuts. Fast unwirklich hatten wir vor wenigen Stunden die friedlichen weissen unberührten Flächen Grönlands überflogen, noch die Bemerkung fallen gelassen „hier unten hat es noch keine schwarze Dreckschicht“, waren bereits ein paar Stunden später ins pulsierende Leben von LA eingetaucht und hatten dabei theoretisch (abgesehen von der Distanz) direkte Sicht über den Pazifik, an den Ort wo sich eine Tragödie abspielt welche die ganze Welt noch lange beschäftigen wird. Auch uns Schaffhauser.  

Kategorie: