Berge: Gefahr und Faszination zugleich

Geschrieben von Markus Müller

Vor fünfzig Jahren ereignete sich das schwerste Flugzeugunglück innerhalb der Schweiz. Eine viermotorige Vickers Maschine einer englischen Chartergesellschaft zerschellte am Jura bei Hochwald nachdem die Piloten in starkem Schneetreiben den Anflug in Basel abbrechen mussten. 108 Personen, davon vier der sechs Crewmitglieder, kamen ums Leben, 37 überlebten. Die Untersuchung ergab fatale Pilotenfehler. Verwechslung der Funkfeuer Basel Süd und Nord, grosse Ausbildungsdefizite beim Kapitän und mangelhaftes Überprüfen der Instrumente bei schlechter Sicht. Wie oft hatte die Unfallfluggesellschaft eine Vorgeschichte.

Neben diversen Unfällen war die finanzielle Situation kritisch. Leider sind viele Unfälle auf ähnliche Konstellationen zurückzuführen. Etwa der Alitalia-Absturz am Stadlerberg, beide Crossair-Abstürze oder zwei Air-India-Abstürze am Mont Blanc. Gerade jetzt, bei herrschendem Pilotenmangel, muss sehr sorgfältig mit der Anstellung nicht selbst ausgebildeter Piloten umgegangen werden. Das war damals bei Crossair mitverantwortlich.

Plötzlich taucht ein Hindernis auf

Der Flug in ein Hindernis mit einem voll steuerbaren und intakten Flugzeug (in der Fachsprache «Controlled flight into terrain»), ist schlussendlich die Ursache aller genannten Unfälle. Es klingt für Laien vielleicht eigenartig: Ein steuerbares Flugzeug wird von der Besatzung gegen den Boden oder in ein Hindernis hinein gesteuert. Natürlich nicht mit Absicht, aber weil die Gefahr nicht erkannt wurde und kein Sichtkontakt zum Hindernis bestand. Moderne Navigationsinstrumente helfen zwar enorm, aber immer noch führen Fehlinterpretationen oder technische Probleme zu Unfällen. Der hilfreiche Radar-Höhenmesser springt unter 800 Meter über Grund an und ist eine wertvolle Hilfe im Anflug und bei der Landung. Bei der Annäherung an einen Berg mit hoher Geschwindigkeit kommt die Warnung aber zu spät. Ein Durchbruch ist mit der Einführung des Bodenannäherungswarnsystems GPWS («Ground Proximity Warning System») gelungen. Grundlage ist die digitale Erfassung der Topografie. Mit der digitalen weltweiten Gelände-Datenbank und der Satelliten-Navigation wird die Flugzeugposition in der Geografie dargestellt. Über Meer blau und grün, gelb oder rot für höheres, gefährliches Terrain. Der Navigationscomputer rechnet ständig, ob eine Kollision mit dem Gelände droht und forderte in dem Fall die Piloten mit einer synthetischen Stimme zum sofortigen Steigflug auf: «Pull up, pull up.» Erfasst sind nicht nur Berge, sondern auch hohe Gebäude. Das Burj Khalifa in Dubai mit seinen 828 Metern wird im An- und Abflug als rotes Viereck dargestellt, um auch bei fehlender Sicht ein sicheres Umfliegen zu ermöglichen. Als uns der Fluglotse beim Südanflug in Tel Aviv etwas weit Richtung Bergkette schickte und das Fahrwerk noch nicht ausgefahren war, sprach das System an. Wie geübt folgten wir der Steigflugaufforderung, obwohl wir gute Sicht hatten und landen wollten. Wahrscheinliche Fragen vom Flugsicherheitsbüro zuhause beantworteten wir im Voraus mit einem Flugrapport.

Berge faszinieren trotz Gefahr

Berge sind, wenn man sie nicht sieht oder wenn die Leistung der Triebwerke zum Überfliegen nicht ausreicht, eine grosse Gefahr und haben schon viele Opfer gefordert. Sichtbar üben sie aber eine grosse Faszination aus. Auf dem Flug von São Paulo nach Santiago de Chile machten wir eine Passagieransage über den argentinischen Anden. Kurz darauf läutete die Glocke der Cockpittür Sturm. Die in der Kabine entbehrlichen Flugbegleiter, die Passagiere schauten eh gebannt zum Fenster hinaus oder schliefen, wollten sich den Anblick der Berglandschaft selbst nicht entgehen lassen. Aus dem weissen Hochland heraus ragte vor uns der 6961 Meter hohe Aconcagua. Da wir bald den Sinkflug beginnen wollten, fragten wir den Fluglotsen, ob wir absinken und näher an den Berg fliegen dürften, wir hätten Sichtkontakt. Nach kurzem Zögern, wahrscheinlich nach Absprache mit seinen Kollegen in Chile, bekamen wir die unerwartete und völlig unübliche Freigabe für den Anflug im über hundert Kilometer entfernten Santiago de Chile und die Bewilligung von 35 000 auf 2000 Fuss abzusinken, mit dem ausdrücklichen Hinweis, wir seien fortan im Sichtflug und nicht mehr unter Instrumentenflugregeln selber verantwortlich für den Abstand zum Terrain. Das liessen wir uns nicht zweimal sagen, leiteten den Sinkflug unter die Spitze des Aconcagua ein und steuerten das Flugzeug Richtung Berg. Um das Ganze noch etwas sportlicher geniessen zu können, schalteten wir den Autopiloten aus. Ein gutes Training, das Flugzeug in grosser Höhe und bei grosser Geschwindigkeit mit ganz feinen Bewegungen mit dem Seitenknüppel zu steuern. In respektvollem Abstand flogen wir mit dem 170 Tonnen schweren Airbus der Bergkante entlang und sanken über den Richtung Meer abfallenden Anden ab, wie wir es sonst nur im Sport- oder Segelflugzeug fliegen konnten. Vier Kolleginnen schauten auf meiner Seite hinaus, zwei standen hinter dem Co-Piloten als das Bordtelefon klingelte. Wie lange es bis zur Landung daure, wollte die Maître de Cabine wissen. Der Navigationsbildschirm sagte acht Minuten. Nach einem nicht zitierbaren Schreckensruf stürmten unsere sechs Cockpitbesucher nach hinten und es tönte und lärmte in der Küche hinter uns beim Aufräumen und Sichern für die Landung. Es war etwas fies von uns, aber wir setzten aus lauter Freude am Fliegen noch eins drauf mit einem sportlichen Anflug. Wir mussten die Geschwindigkeit sogar noch stark erhöhen, um die Höhenmeter bis auf Meereshöhe abzubauen. Schlussendlich war in einer meisterlichen Leistung des Kabinenpersonals alles gesichert und alle waren angeschnallt als wir aufsetzten. Wir hätten sonst natürlich einen Vollkreis über dem Meer eingebaut, um ihnen mehr Zeit zu geben. Es kostete mich am Abend zurück in São Paulo eine Runde Caipirinha, um die Crew für den Stress zu entschädigen.

Über dem Kilimandscharo waren die Fluglotsen ähnlich grosszügig in der Höhenfreigabe. Der faszinierende 5895 Meter hohe Vulkanberg mit der weissen Spitze mitten in Afrika liegt auf der Route von Nairobi nach Dar es Salaam oder Johannesburg. Der damalige DC-10-Chefpilot wünschte mich als Co-Piloten auf seinem Letztflug und hiess mich im sentimentalen Abschied von der Linienfliegerei den Berg dreimal umrunden. In Kairo erhielten wir jeweils auf freundliche Anfrage die Bewilligung, den Anflug um die Pyramiden herum zu verlängern. Zum Greifen nah waren die in unvorstellbarer Handarbeit errichteten Spitzen. In Rio de Janeiro liessen uns, nachdem wir am Funk von der einzigartigen Copacabana schwärmten, die Controller freie Hand, so tief wir wollten vor dem Zuckerhut abzudrehen, der Copa entlang zu fliegen und dann im Steigflug der riesigen Jesus-Statue auf dem Corcovado fast in die Augen zu schauen. In Alaska hingegen wies uns der Fluglotse trotz Silvester an, Flugrichtung und Steigrate zu ändern, um dem Mount McKinley nicht zu nahe zu kommen. Im Himalaya-Gebiet gibt es ein anderes Problem: Es muss immer der Ausfall eines Triebwerks und der Kabinen-Druckabfall abgedeckt sein. In beiden Fällen müsste sofort via Flucht-Route abgesunken werden, was in diesem Gebiet nicht überall möglich ist. Deshalb darf es mit schweren Flugzeugen nicht überflogen werden.

 

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