Was Erfahrung wert ist, lernte ich bereits bei meiner ersten Arbeitsstelle nach der ETH. Wir testeten in den USA neue Fliegerabwehrraketen. Beim Durchfliegen von Mach 2, der zweifachen Schallgeschwindigkeit, wurde der Flugkörper instabil und unsteuerbar. Computersimulationen und Modifikationen halfen nicht und es wurde in der Not der Aerodynamik-Crack S. S. Chin zurückgeholt. Er hatte die Firma wegen des weit lukrativeren Immobiliengeschäfts verlassen. Tatsächlich half seine Erfahrung und Intuition – die Flügelenden wurden angepasst. Der zehntägige ziemlich teure Einsatz lohnte sich. Die Rakete flog kontrolliert bis zur dreieinhalbfachen Schallgeschwindigkeit.
Es wird viel von künstlicher Intelligenz (KI) und dem Ersetzen der menschlichen Erfahrung und Intuition geschrieben. Unterstützen wird sie sicher, vollständig ersetzen kaum. Unsere Erfahrung, Erlebnisse und Team-Erkenntnisse in neuen Situationen umsetzen zu können ist ein riesiger Vorteil gegenüber der KI. Deshalb sehe ich der Vorhersage, Piloten würden bald durch Computer ersetzt, gelassen entgegen. Ausnahme sind lokale Drohnen mit integralem Rettungssystem. Aus meiner Erfahrung würde ich in kein unbemanntes Flugzeug steigen und auch in Frage stellen, ob nur noch ein Pilot im Cockpit eines Langstreckenflugzeugs sitzen soll. Natürlich wurden der Navigator, der Bord-Ingenieur und der Bordfunker völlig berechtigt durch Technik ersetzt. Diese Entwicklung wird weitergehen, die Fliegerei noch sicherer machen und die Piloten noch mehr unterstützen, aber sie nicht ersetzen.
Doppelausfall nicht abgedeckt
In der Fliegerei sind Single Failures (einfache Ausfälle) immer abgedeckt. Sei es mit einem zweiten Piloten oder zwei Triebwerken. Alle wichtigen Systeme sind mindestens doppelt und unabhängig voneinander vorhanden. Double Failures (zweifach Ausfälle) sind hingegen nicht abgesichert und bei der in der Fliegerei intensiven und regulierten Wartung wenig wahrscheinlich. Ausnahmen sind Flugdatensysteme, Navigation, Hydraulik oder die elektrische Stromversorgung. Die elektrischen Generatoren sind auf modernen digital gesteuerten Flugzeugen in mehrfacher Ausführung vorhanden, mit Triebwerk- und Hilfstriebwerk-Generatoren, ausfahrbarem Propeller-Generator oder Batterien. Ausschliessen, das zeigt auch die Erfahrung, kann man allerdings nichts. Solche Szenarien werden im Simulator geübt. Kommt es zu einem Mehrfachausfall, braucht es Erfahrung, Können, Training, Intuition und hie und da etwas Glück. Dass das künstliche Intelligenz je gewährleisten und richtig anwenden wird, ist unwahrscheinlich. Ob KI den Hudson River als Notlandplatz ausgewählt hätte wie «Sully» Sullenberger oder die kanadische A330 auf den kleinen Azoren mitten im grossen Atlantik hätte landen können, nachdem in zehntausend Metern Höhe beide Triebwerke ausfielen wegen eines Treibstoff-Lecks, ist zu bezweifeln.
Besonders wichtig ist Erfahrung mit der Natur, weil sich diese nicht an KI-Algorithmen hält. Aktuell wird Hurrikan Lee zum stärksten Sturm dieses Jahres. Ich habe 2005 den bisher weltweit stärksten dokumentierten Sturm Wilma in Miami hautnah miterlebt. Es wurden Windgeschwindigkeiten von 295 und Böenspitzen von bis zu 340 Stundenkilometer gemessen. Die Palmen bogen sich wie Grashalme. Überraschend schnell änderte der Sturm die Richtung und Geschwindigkeit und wir konnten das Flugzeug gerade noch nach Hause schicken. Das Problem stellt sich weniger in der Luft – den Sturm umfliegt man grossräumig mit dem Bord- und Bodenradar – sondern für Flugzeuge am Boden, die man rechtzeitig evakuieren muss. Wir waren eine Woche in Miami blockiert.
Flugeinsatz mit lauter Problemen
Wir freuten uns auf den Flug nach Dar es Salaam mit Zwischenlandung in Nairobi und Aufenthalt in Tansania und auf dem Rückflug in Nairobi. Es ging auch alles gut, bis kurz vor der Landung in Nairobi. Plötzlich war die Piste weg, respektive die Anflug- und Pistenbeleuchtung aus. Mit den Instrumenten und unseren starken Scheinwerfern machten wir einen erfolgreichen Anflugversuch in der Dämmerung auf die dunkle Piste in der dunklen Steppe. Rasch die Kenia-Passagiere aussteigen lassen, auftanken, alle Berechnungen und Formalitäten erledigen, um Zeit aufzuholen. Dann kam die Hiobsbotschaft, totaler Stromausfall am Flugplatz und kein Start möglich. Vorsorglich tankten wir nach. Da es dauern könnte, hielten wir die Passagiere bei Laune und warteten. Nach zwei Stunden ging das Licht an und alle Airliner wollten möglichst rasch in die Luft vor dem nächsten Stromunterbruch. Im Glauben, das Gröbste hinter uns zu haben, genossen wir die Tage in Dar es Salaam und Nairobi und übernahmen um Mitternacht von den Kollegen das Flugzeug für den Rückflug. Die Wetterkarten vom lokalen Wetterbüro zeigten zwar viele Gewitter auf der Route, aber die sollten wir problemlos überfliegen können – nahmen wir noch entspannt an. Ein Telex von Zürich änderte unsere Meinung schlagartig. Alles halt, der Vulkan Dubbi in Eritrea sei ausgebrochen und eine sich ausbreitende Rauch- und Aschewolke, die bis in fünfzehn Kilometer Höhe reiche, beeinträchtige den Flugverkehr in ganz Ostafrika bis nach Ägypten. Wir bekamen bessere Wetterkarten aus Zürich mit der gerechneten Position und Ausdehnung der Aschewolke. Der Dispatcher schlug vor, die riesige Aschefahne in einer westlicheren Route zu unterfliegen wegen der grossen Gefahr für die Triebwerke. Das kostete uns viel Flugzeit und über zehn Tonnen zusätzliches Kerosin wegen des Umwegs und der tiefen, bei weitem nicht mehr optimalen Flughöhe. Vor allem aber führte der Flugplan nicht mehr über die vielen Gewitter, sondern mitten durch sie hindurch. Und das in finsterer Nacht, ohne sichtbare Wolken-Konturen. Die damalige US-Aussenministerin Hillary Clinton reiste übrigens unverzüglich aus Äthiopien ab mit ihrem Regierungsjumbo. Es war ein nicht enden wollender Flug im Schüttelbecher des aktiven Wetters unter Flight Level 200 (6000 Meter) anstatt auf den üblichen 11 000 Metern grösstenteils über dem Wetter. Bis fast an die Mittelmeerküste war Teamarbeit, Abrufen der Erfahrung und Verfolgen der Wetterentwicklung gefragt. Einer suchte ständig mit dem Radar die Position und Ausdehnung der Gewitterwolken ab und holte am Funk Informationen bei anderen Piloten, der andere starrte angestrengt in die Dunkelheit hinaus, um bei hellen Blitzen Wolkenkonturen zu erkennen und kurvte das Flugzeug um diese oder die Radarechos herum. Oder auch mal hindurch, wo der Radar am wenigstens Intensität anzeigte, wenn die Gewitter sich aneinanderreihten. Ich vermute, künstliche Intelligenz und Autopilot hätten die Übersicht rasch verloren und auf der Buckelpiste aufgegeben, während Piloten den Grundsatz haben «never ever give up» (gib niemals auf). Schlussendlich ist aber Erfahrung auf jeder Stufe für eine Airline enorm wichtig und wird leider oft unterschätzt und vernachlässigt. Das Kabinenpersonal braucht Erfahrung im Umgang mit den Passagieren in schwierigen Situationen. Technische Erfahrung und der Blick für Anomalitäten der Mechaniker sind entscheidend für die Flugsicherheit. Erfahrenes Bodenpersonal kann auftretende Probleme souverän lösen und ist entscheidend für die Pünktlichkeit. Dazu muss man aber das motivierte Personal wertschätzen und nicht auf jeden Geschäftsrückgang mit Personalabbau reagieren. Wenn Flugzeuge und sogar Passagiergepäck stehengelassen werden, sind meist andere Management-Fehler passiert – es ist falsch, immer dem Personalmangel die Schuld zu geben.