Ein Brief verbindet Unterstadt mit Rio de Janeiro

Geschrieben von Markus Müller
Luis in Rio

Kürzlich war ich morgens in der Unterstadt. Vor den Restaurants wurde geschrubbt, Vorplätze abgespritzt, Getränke angeliefert und erste Gäste sassen auf den Gartenstühlen. Geruch, Geräusche und Bild erinnerten mich stark ans Atlantico an der Copacabana. Der Nachtflug nach Rio war lang. Nachdem Aarau, Genf, Frankreich, Spanien und die Kanarischen hinter uns lagen, wurde es über weite Strecken einsam.

Der Funkverkehr mit Dakar, Cap Verde und Fortaleza findet nur sporadisch statt und erst mit Salvador ist man wieder in ständigem Kontakt und die Luftstrasse wird belebter. Nach der Landung und der Fahrt ins Hotel war es üblich, dass man zusammen einen Schlummerbecher trinken ging. Einerseits war man etwas überdreht oder wollte den Flug kurz besprechen. In Rio war es eben das Atlantico. Wir waren jeweils die ersten Gäste, von den vertrauten Kellnern bereits erwartet. Sonnenaufgang hinter dem Zuckerhut, erste Brasilianer zum Frühschoppen, schrubben der Vorplätze, Anliefern von Getränken sowie grossen Eisblöcken zum kühlen sowie am Morgenhimmel die Kollegen die Richtung Sao Paulo starteten mit unserem Flugzeug spielten sich fast wie ein extra für uns inszeniertes sich täglich wiederholendes Schauspiel ab. Es blieb meist nicht bei einem Bier. Wenn der als Rechnungshilfe angehäufte Bierdeckelstapel eine beachtliche Höhe erreicht hatte, genehmigte man sich noch einen Caipirinha als Einschlafhilfe. Den besten machte Mama in der weissen Schürze am Kiosk gegenüber, dazu ein Filet Sandwich. Danach schlief es sich hervorragend trotz gleissender Sonne und verlockender Copacabana. Vor ein paar Wochen erhielt ich einen Brief von einem bekannten Schaffhauser der mich an besagtes Atlantico erinnerte. Er flog 1973 als Tiger (mitfliegender Polizist) mit  Swissair. „Unser Kapitän hat die ganze Crew angewiesen in voller Montur über den glühend heissen Tarmac  bis zum Flughafen Gebäude zu gehen. Wir sind buchstäblich fast verdampft. Dann hat er uns Tiger, beides Rio Anfänger, in die Kunst des Kaffee Trinkens eingewiesen“, schrieb er. Ich nehme an, es ist nicht beim Kaffee geblieben. Das Uniformenreglement gestattet den Piloten zwar, im Gegensatz zum Kabinenpersonal, bei heissem Wetter ohne Kittel aufzutreten. Einige Kapitäne bestanden allerdings in ihrer Crew auf militärisch einheitliche Vollmontur. Beim Treffpunkt in der Hotellobby forderte mich mein Kapitän auf: „Herr Müller ziehen sie bitte die Jacke an“.  „Herr F., es ist Hochsommer und meine Jacke hängt im Kasten in Zürich“, meine Antwort. Das damalige Geschäftsleitungsmitglied  stutzte einen Moment ob dem dreisten Copiloten und befahl dann der ganzen Crew die Jacke auszuziehen um ein einheitliches Bild abzugeben. Ein zweites Mal schaute er mich missbilligend an als ich mich auf Reiseflughöhe mit Blick und Tagi informierte was in der fernen Heimat gelaufen war. Ich solle besser die NZZ lesen, vor allem die Finanzseite, wenn ich es zu etwas bringen wolle belehrte er mich. Als junger Hausbesitzer und Familienvater interessierte mich das allerdings wenig. Ich habe ihn kürzlich getroffen. Immer noch sehr korrekt gekleidet und immer noch per Sie.


Guter Geist oder Mafiosi
„Im Hotel lernten wir dann den legendären Taxifahrer Luis kennen“, stand weiter im Brief.  Luis war ein Begriff für Generationen von Piloten, Flight Engineers, Flight Attendants und Tigers in Rio. Jeden Tag wartete er frühmorgens im Atlantico. Er hat Geld gewechselt, Taxifahrten gemacht, Ausflüge vermittelt und vielen aus heiklen Situationen geholfen. Geld wurde jeweils nur für einen Tagesbedarf gewechselt wegen der galoppierenden Inflation. Der Gegenwert für ein Nachtessen war ein Monat später noch eine Cola. Es rankten sich wildeste Geschichten um Luis. Er sei ein Mafiosi,  beherrsche die Copacabana, betreibe ein Imperium. Tatsache war, dass er mit seinen beiden Brüdern ein paar Fahrzeuge betrieb und im Quartier jeden sehr gut kannte und auch Beziehungen zu lokalen Amtsstellen und Polizei pflegte. So gelang es ihm tatsächlich manchmal, abhanden gekommene Gegenstände von Crew Mitgliedern wieder zu beschaffen, was natürlich seinen Mythos förderte. Er war aber tatsächlich eine schwarze Perle wenn es um sichere Ausflüge, den Besuch eines Fussballspiels im Maracana mit über hundert Tausend anderen oder die Vermittlung der verrücktesten Dinge ging. Eine Vorliebe hatte er allerdings, nämlich blonde Flight Attendants. Diese missverstanden das hie und da etwas naiv und meinten für sie sei alles gratis während wir, nicht blond und nicht weiblich, einen Preis mit ihm aushandelten. Wenn er dann den Lohn einforderte oder „Alternativen“ vorschlug, waren wir Cockpitkollegen  gefragt zu vermitteln. Im März 2004 habe ich Luis wieder getroffen. 41 Jahre nach dem Schaffhauser Tiger. Wir lieferten eine MD-11 an Varig ab, Swiss flog schon lange nicht mehr nach Rio. Der stets informierte Luis erwartete uns bereits vor dem Hotel, wie während Jahrzehnten zuvor. Älter und grau geworden umarmte er uns herzlich und hatte bereits den Vorschlag fürs Abendessen bereit. Er vermittelte der Churasceria Jardiniere, ein Stammlokal der früheren Swissair Besatzungen, Kundschaft. Auf die Frage, woher er eigentlich damals die zwei Steine im schmuddeligen Taschentuch hatte, die er mir als Depot für hundert geborgte Dollar aufdrängte und am andern Tag darauf bestand, dass ich sie für eben diese hundert Dollar  behalten solle um meiner Frau etwas Schönes zu machen, hatte er nur ein herzhaftes Lachen übrig. Ich liess sie nämlich schätzen und entgegen der Vermutung es handle sich um Glasstücke, waren sie ziemlich viel wert. Ob ich noch ein paar weitere kaufen wolle, zog er schon sein schmuddeliges Taschentuch hervor, wieder ganz Geschäftsmann oder eben doch ein bisschen Mafiosi.   

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